Wer sich mit Prozessmanagement auseinandersetzt, stellt sich unweigerlich die Frage: Entscheide ich mich für eine Ist- oder eine Soll-Prozessmodellierung? Oder ist eine Mischform sinnvoll? Während Prozessmanager meist klare Fürsprecher von Soll-Prozessen sind, sprechen sich Qualitätsmanager typischerweise für Ist-Prozesse aus. Das ist auf die unterschiedlichen Rollen sowie ihre typischen Charaktereigenschaften und Zielstellungen zurückzuführen. Der Prozessmanager möchte Prozesse gestalten und verändern, der Qualitätsmanager hingegen möchte sie standardisieren und stabilisieren.
Studien zeigen jedoch, dass über 70 % der Business Process Reengineering-Projekte scheitern – sie sind der Inbegriff einer radikalen Soll-Modellierung. Die Ist-Modellierung zeichnet ebenfalls ein trauriges Bild: Einer eigenen Erhebung zufolge dienen etwa 80% der Ist-Modelle ausschließlich dazu, QM-Zertifizierungen zu erlangen. Im Arbeitsalltag finden sie kaum Anwendung und bleiben unternehmerisch somit wirkungslos. Schlechte Aussichten? Auf den ersten Blick scheint es so. Doch hier lohnt sich ein zweiter Blick, denn es existiert eine Lösung für lebendiges, akzeptiertes und wirksames Prozessmanagement. Und diese vereint beide Ansätze.
Soll-Prozesse bilden die Arbeitsabläufe im Unternehmen so ab, wie sie zukünftig stattfinden sollen. Sie werden häufig als motivierender wahrgenommen als Ist-Prozesse, da sie dem Ansatz des „Solution Based Thinking“ folgen. Sie stellen also die Lösung in den Vordergrund, anstatt sich mit Problemen auseinanderzusetzen. Außerdem sind Soll-Prozesse häufig linear, in sich konsistent und schlüssig strukturiert – und damit besonders einfach. Als Idealvorstellung definiert, müssen sie zudem nicht permanent an den tatsächlichen Ablauf im Unternehmen angepasst werden.
Leider lässt sich diese Idealvorstellung des perfekten Prozesses oft nur schwierig realisieren. Da das Modell zunächst ein rein theoretisches Konstrukt aus Wünschen und Zielen ist, können sich viele Mitarbeiter das praktische Ergebnis nicht vorstellen. Darum setzen sie sich erst mit dem Plan auseinander, wenn sie ihn tatsächlich umsetzen. Auf diese Weise kann das Soll-Modell nicht als Wissensplattform für den aktuellen Arbeitsalltag verwendet werden. Im Gegenteil: Durch den starken Fokus auf den Soll-Zustand besteht sogar das Risiko, dass aktuelle Probleme nicht gelöst oder eigentlich gute Praktiken verschlechtert werden.
Ist-Prozesse bilden die Arbeitsabläufe im Unternehmen so ab, wie sie aktuell stattfinden. Dies geschieht zwar über ein stark vereinfachtes Modell, jedoch besteht kein imaginäres Modell der Zukunft. Dadurch haben sie einen deutlich größeren Praxisbezug als Soll-Prozesse und erfordern weniger Vorstellungsvermögen seitens der Anwender. Ist-Modelle unterstützen zudem das einheitliche Verständnis sowie die Standardisierung von Prozessen im Unternehmen. Darüber hinaus erlauben sie es, kleinschrittige und präzise Veränderungen an Prozessen vorzunehmen. Dadurch bleiben Inhalte immer auf aktuellem Stand. Es entsteht eine prozessorientierte Wissensplattform, die fest in den Unternehmensalltag integriert ist.
Häufig wird Ist-Modellen jedoch vorgeworfen, dass sie zu schnell veralten und das permanente Aktualisieren zu aufwendig ist. Außerdem sind Ist-Prozesse häufig sehr variantenreich und komplex. Da sie Mitarbeiter permanent mit aktuellen Problemen konfrontieren, werden sie oft als weniger motivierend empfunden.
Ist-Modelle sind zu aufwendig in der Pflege, Soll-Modelle sind realitätsferne Wunschvorstellungen – was nun? Die Lösung liegt in einem agilen Ansatz, der die Vorteile beider Methoden vereint:
Startpunkt für ein erfolgreiches Prozessmanagement ist die gemeinschaftliche Ist-Modellierung, die nur mit einem leichtgewichtigen Tool gelingt. Dieses ermöglicht es jedem Mitarbeiter, Arbeitsabläufe einfach und schnell an den aktuellen Best Practice anzupassen – bei Bedarf sogar täglich. Das motiviert dazu, Prozesse aktiv mitzugestalten. Auf diese Weise werden kleinschrittig Soll-Prozesse definiert, die schon nach kurzer Zeit zu Ist-Prozessen werden. Gleichzeitig bleibt die Prozessdokumentation immer nah an der Realität. Die Erfolgsquote solch kontinuierlicher Verbesserungen ist deutlich höher als bei einer reinen Soll-Prozessmodellierung.
Fast immer. Wer ein starres Prozessmanagement-Tool nutzt, in dem nur wenige Experten für alle Arbeitsabläufe verantwortlich sind, sollte auf Soll-Prozesse setzen. In diesem Fall wäre eine realitätsgetreue Dokumentation zu aufwendig, die modellierten Prozesse zu schnell veraltet. Darum empfiehlt sich auch bei den meisten BPM-Tools eine reine Soll-Prozessmodellierung unter Inkaufnahme aller Nachteile dieses Ansatzes.
Bei großen Änderungen in der Ablaufstruktur kann es ebenfalls erforderlich sein, zunächst mit einer Soll-Prozessmodellierung zu starten – etwa bei einer Umstrukturierung, beim Aufbau eines neuen Standorts oder bei der Einführung von SAP. Die Schwächen des Ansatzes kann dabei ein gutes Projektvorgehen ausbügeln. Doch auch bei großen Veränderungen sollte es das Ziel sein, mit einer lebendigen Ist-Modellierung möglichst schnell wieder eine enge Bindung zwischen Dokumentation und Realität zu schaffen.
Das Fazit: Ideal ist eine lebendige Ist-Modellierung mit kleinschrittigem, kontinuierlichem Verbesserungsprozess in einer interaktiven Prozessplattform wie Q.wiki. Bei großen Veränderungsprojekten und zentralistisch gepflegten BPM-Tools ist jedoch meist nur eine Soll-Modellierung effizient umsetzbar. Sinnvoll ist es in jedem Fall, sich möglichst früh für eine der Varianten zu entscheiden. Prozesse später umzumodellieren, ist nämlich genauso aufwendig wie sie komplett neu zu gestalten.
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Wie modelliert man Prozesse eigentlich „richtig“? Und was hat eine Küchenmaschine mit Prozessmodellierung zu tun?